Bundestagswahl 2021 - Teil 2
Unser Blick auf die Bundestagswahl 2021. - von Henning
Teil 2:
Sinn-Schaffung
Wie kann Engagement innerhalb des Komplexes „Flucht“ stattfinden? Das vorweg: Rückzug ist nicht angebracht. Vielmehr geht es um individuelle Handlungsspielräume und das Erkennen der eigenen Wirksamkeit. Hierzu sind beispielsweise die Realitäten der politischen Gegenwart zu beachten:
- Es existiert keine Regierung innerhalb der EU, die Migration als Chance und die Aufnahme von Geflüchteten rückhaltlos als moralisch gebotene Aufgabe der eigenen Politik begreift. Vielmehr werden diese Fragen immer unter Bedrohungsvorzeichen verhandelt. In ihren Positionen wissen diese Regierungen, wie auch immer sie zusammengesetzt sind, den Großteil der eigenen Bevölkerungen hinter sich.
- Die Schaffung eines Konsenses ist damit unrealistisch. Das Einstimmigkeitsprinzip der EU steht dem zusätzlich entgegen. Es wird damit auf absehbare Zeit nicht zu einer zufriedenstellenden europäischen Lösung kommen. Ein weiteres Beispiel hierfür stellt die aktuelle Diskussion rund um die Situation in Afghanistan dar.
- Auch in Deutschland ist dementsprechend keine breite Bewegung zu einer tragfähigen Lösung erkennbar. Auch die kommende Regierung wird hieran nichts ändern. Man wird weiterhin viel Geld in Vorkehrungen investieren, Flüchtlinge von den deutschen Grenzen fernzuhalten, auch wenn dies Deals mit Diktatoren, ein Weiterbestehen von Gewalt- und Ausbeutungsstrukturen entlang der Fluchtrouten und das Gewährenlassen des Mobs in den sozialen Netzwerken und seines politischen Arms in den Parlamenten bedeutet.
Das bedeutet: das Ansetzen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene, die Schaffung einer großen Bewegung ist, zumal in kurzer Zeit, nicht erfolgversprechend. Vielmehr beginnt der Prozess bei jedem Menschen selbst, bei der Selbstreflektion, den eigenen Werten, Vorstellungen und Ängsten, nach der Frage des „Wofür stehe ich“ und dem entsprechenden Handeln. Wenn man sich darüber klar geworden ist, spannt sich das Betätigungsfeld von selbst auf: das eigene Umfeld. Hier beginnen Veränderungen, hier beginnen Praxis, Umsetzung, Empirie, Erfahrung und Selbstwirksamkeit. Nur hier wird es möglich, dass amorphe Massen zu Individuen zerfallen.
Zulassen, Individuum zu werden
Es ist paradox, dass zur Vereinfachung und Einordnung der Gegenwart ebenso natürlich Gruppenkategorien gebildet werden, wie es jeder Mensch mit der gleichen Selbstverständlichkeit gewohnt ist, sein soziales Umfeld als Ansammlung von eigenständigen Persönlichkeiten zu begreifen. Aus diesem Spannungsfeld jedoch entstehen Abwertung und Diskriminierung und steigern sich zu Verachtung und Hass. Die politische Rechte beispielsweise operiert immer mit der Masse als Bezugspunkt, sei es positiv mit dem „Volk“ als idealtypischer Instanz jeder gesellschaftlichen Entscheidung, sei es negativ mit „den Flüchtlingen“, „dem Islam“, „den Finanzeliten“, „den Gutmenschen“ oder „der Lügenpresse“ als sinistrem Konglomerat von feindlich gesinnten Netzwerken. Nur mit diesen Kategorien funktionieren diese Narrative.
Der Umgang mit Geflüchteten auf der untersten Ebene jedoch, nämlich der, auf der sich zwei Menschen begegnen, ist schon in seiner Grundausrichtung hierzu der Gegenentwurf. Nur hier kann Austausch beginnen, Kommunikation ermöglicht werden und eine gemeinsame Basis gefunden werden, auf der jede*r auch Individuum bleiben und als solches wahrgenommen werden kann. Diese Basis kann aber von jedem Menschen nur an einem Ort gelegt werden: im eigenen Umfeld. In der eigenen Wohnung, im Sportverein, am Arbeitsplatz, an den Orten, die man in der Freizeit aufsucht, mit den Menschen, bei denen man sich bewusst entscheidet, ihnen begegnen zu wollen und genauso mit denen, auf die man zufällig trifft.
Diese Herangehensweise ist jedoch nicht nur sozial und emotional aufgeladen, sie ist auch zutiefst politisch. In ihr werden Werte entwickelt und verändert, hier erkennt man die eigenen Grenzen, setzt eigene Prioritäten und entscheidet, was auch in den Strukturen, in denen man sich bewegt, für einen selbst wichtig ist und wie man sie verändern möchte. Hier entsteht Solidarität mit Opfern, hier entsteht politisches Wissen und Interesse und hier entwickelt sich die erste Stufe von Handlungsoptionen. Nur hier wird Differenzierung möglich und wir alle haben die Chance, wie es die Publizistin Carolin Emcke nennt, „im Plural zu existieren“, mit allen Konflikten, die damit einher gehen mögen.
Dinge, die die Stadt betreffen
Die Episode um die Wolfsgärten in Heidelberg führt an den Ursprung von „Politik“ zurück, die in ihrer ursprünglichen Wortbedeutung im Griechischen nichts anderes war als „Dinge, die die Stadt (polis) betreffen“. Ausgehend von diesem Gedanken wird die Stadt oder die Gemeinde, in der man lebt, zum ersten Spielfeld von gesellschaftlichem Engagement. Hier treffen Menschen auf Menschen, hier wird kommuniziert, diskutiert, gestritten, hier werden Strategien entwickelt, Netzwerke geschaffen und Räume kreiert. Hier ist die Ebene, auf der das „Ankommen“ geschieht, wo die Integration von Geflüchteten verhandelt, unterstützt und organisiert werden kann. Hier werden die politischen Maßnahmen, die auf der Landes-, Bundes oder EU-Ebene für diesen Bereich getroffen werden in ihren Auswirkungen sicht- und greifbar. Gleiches gilt für Klima-, Verkehrs- und Bildungspolitik, für den Umgang mit Wohnraum, für die Schaffung von Bildungsmöglichkeiten und Treffpunkten. Selbst eine Wahl für den Bundestag, wo zunächst über die nationale Ebene entschieden wird, wird von den Wähler*innen für den Raum getroffen, den sie im Alltag überblicken können, wo sie ihre Lebensverhältnisse positiv oder negativ bewerten. Dies ist auch der Raum, wo sich entscheidet, wie gut wir Uneindeutigkeit aushalten ohne unsere Werte einem nicht einlösbaren Homogenitäts- oder Klarheitsversprechen zu opfern, sondern wo es mit Carolin Emcke heißt: „Wirklich im Plural zu existieren bedeutet wechselseitigen Respekt vor der Individualität und der Einzigartigkeit aller.“
Möglichkeiten des Engagements
So entsteht ein Rahmen, in dem Engagement dauerhaft möglich und zielführend wird. Er beginnt mit Werten, Gefühlen und Haltungen, die sich mit Faktenwissen und Empirie verbinden, zusammengefasst das „Wer“. Das „Wo“ ist das eigene Umfeld, ein Raum, der es ermöglicht, ihn zu überblicken und in dem das eigene Wirken potenziell sichtbar werden kann. Es folgt die Entscheidung über das „Was“, der Bereich, in dem Aktivität stattfinden soll, verbunden mit einer Zielsetzung. Das „Wie“ definiert sich über die eigenen Präferenzen, die zeitliche Verfügbarkeit und damit der bestmöglichen Ausnutzung des eigenen Potenzials. Es folgen Anbindung an bestehende Netzwerke oder der Aufbau neuer Strukturen, der soziale Aspekt des „Mit Wem“. Diese Fragen können nur individuell beantwortet werden und schaffen aber in der Praxis ein heterogenes Geflecht, das wiederum neue Anknüpfungspunkte und Weiterentwicklungen ermöglicht und damit echte, soziale Vernetzung schafft.
Diese Arten des Engagements unterscheiden sich jedoch fundamental von Bewegungen wie Pegida oder den Querdenkern, die der Journalist Nils Minkmar in der Süddeutschen Zeitung als den „politischen Arm der Einsamkeit“ bezeichnet hat. Laut ihm sind diese die Auswüchse dauerhaften Social-Media-Bombardements ohne die Möglichkeit eines Korrektivs, „theoretisch vernetzt, faktisch aber ganz allein.“ Sie haben kein Ziel, keine dauerhafte Organisation, nur ein „Dagegen“ statt eines „Dafür“ und sind damit anschlussfähig für Extremisten, schon allein weil ihnen ein Fanatismus und ein Einfachheitsstreben innewohnt, die mit der Komplexität der Realität zwangsläufig kollidieren müssen.
Fazit
Die Themenkomplexe Flucht und Klimawandel sind die Prüfungen unserer Zeit. Sie bringen jeden Menschen an Grenzen. Sie brechen in unser Leben ein und führen uns brutal unsere Urangst vor Augen: die Angst vor dem Verlust. Dem Verlust von Besitz, Heimat, Sprache, Kultur, Identität, Kontrolle und damit den gewohnten Möglichkeiten, autonom unser Leben zu gestalten. Sie zeigen uns, dass wir nicht sicher sind, dass nichts selbstverständlich ist. Es braucht manchmal nur ein paar Tage starken Regens braucht, um uns unser Haus, in dem wir uns sicher fühlten, gnadenlos zu nehmen. Eine politische Entscheidung irgendwo in einer fernen Hauptstadt lässt unser Leben im Bombenhagel in Trümmer fallen. In der Konfrontation mit diesen Szenarien müssen wir uns mit uns selbst konfrontieren, müssen Entscheidungen treffen, ganz unmittelbar über unseren Konsum, unsere Mobilität, unsere Identität, unsere Ziele, Ideale, Wünsche und Träume. Wir müssen uns klar werden, dass wir hinter unseren Masken verdrängen, nicht wahrhaben wollen, nicht anerkennen, nicht verstehen können. Und dass wir uns wehren wollen, wenn auch im ersten Impuls oft gegen die Symptome und nicht die Ursachen. So entsteht der Ruf nach einfachen Antworten, so entstehen Verschwörungserzählungen, Hetze, Hass und Gewalt gegen Geflüchtete, Politiker*innen, Aktivist*innen oder Medienschaffende. Hier entscheiden wir uns, wo wir stehen. Hier entscheiden wir uns welche Politik wir möchten, in welchem Umfeld wir leben wollen, in welcher Gesellschaft, in welcher Welt. Solange wir aber nicht wissen, wer wir selbst sind, können uns die Krisen unserer Zeit bis hin zu einem Zustand der Irrationalität triggern, in der wahlweise Geflüchtete, Coronaviren oder verdorrte Landschaften Schuld tragen an unserer Angst und an der Verantwortung, die wir jahrzehntelang nicht übernommen haben.
Aber wenn uns das klar wird, entstehen Optionen. Dann entstehen Möglichkeiten für politisches und gesellschaftliches Engagement, für Empathie und Kommunikation und Selbstwirksamkeit. Wir können ein fester Punkt sein, der einen Raum trägt, in dem Solidarität, Akzeptanz und Kooperation zu jeder Zeit möglich sind und in dem die Realität nie verlorengeht. Wir müssen uns nur dafür entscheiden.
Literaturtipps:
- Andreas Kossert. Flucht. Eine Menschheitsgeschichte. Siedler-Verlag 2020.
- Jan Plamper. Das neue Wir. Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen. S. Fischer 2019.
- Carolin Emcke. Gegen den Hass. Fischer Taschenbuch 2016.
- Claus Leggewie. Jetzt! Opposition Protest Widerstand. Kiepenheuer & Witsch 2019.
- Nils Minkmar. Die Einsamkeit der Querdenker. In: Süddeutsche Zeitung vom 26.7.21. Hier klicken