Bundestagswahl 2021

Unser Blick auf die Bundestagswahl 2021. - von Henning

Teil 1:

Vorbemerkung

Es empfiehlt sich, bei Texten, die eine Meinung vertreten sollen, ein kluges Zitat an den Anfang zu setzen, eines, das den Ton setzt.
Also bitte: der römische Dichter Lukrez, der gegen den Aberglauben und die Furcht vor den Göttern anschrieb, kam zu der Erkenntnis, man solle Menschen gerade dann im Auge behalten, wenn sie „im Zweifel“ seien oder sich Gefahr wähnten. Denn erst dann werde „die Wahrheit hervorgetrieben aus der Tiefe der Brust, die Maske fällt, und zutage tritt der wahre Kern.“

2015

Die Maske fällt. So platt es sein mag, in Corona-Zeiten mit Maskenanalogien zu arbeiten, so treffend ist es zumindest an dieser Stelle . Denn will man vor der Bundestagswahl Bilanz ziehen, über die Art und Weise, wie Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und auch jede*r einzelne*r Bürger*in in Deutschland das Thema Flucht behandelt haben (und behandeln), kann es wohl kein treffenderes Bild geben. Masken sind zu Hunderttausenden gefallen, in den Institutionen, den Städten und Gemeinden, in Parteien, Betrieben, Vereinen und Familien, bis hin zu jedem einzelnen Menschen.

Und wie sie fielen, kam vieles zum Vorschein, Gutes und Schlechtes. So wurde geklatscht auf den Bahnhöfen, gespendet, unterstützt, Initiativen und Vereine gründeten sich, es wurden Deutschunterricht und Nachhilfe gegeben, Patenschaften übernommen und Bildungsprogramme aufgelegt. Man sprach von Ankommen, von Aufnahme und von Integration.

Manche sprachen aber auch von Kontrollverlust, von Rechtsbruch. Von Wellen und Fluten und Strömen. Und von Gefühlen: viele formulierten plötzlich Ängste oder Befürchtungen. Oder Wut oder Unverständnis bis hin zum Hass. Plötzlich ging es um den Verlust von Identität und Kultur, ohne dass es eine allgemeingültige Definition gegeben hätte, was damit gemeint sei.

Die geflüchteten Menschen sprachen zunächst wenig und wenn dann in Sprachen wie Arabisch, Kurdisch oder Farsi, die kaum jemand verstand. Sie mussten aber erklären, wer sie seien, wann und wo sie geboren waren und warum sie überhaupt gekommen waren. Sie bekamen einen rechtlichen Status, amtliche Bescheide und Zuteilungen von Leistungen und Unterkünften. Und ohne dass sie es so gewollt oder irgendwie hätten beeinflussen konnten, sendete ihre Ankunft einen Bewegungsimpuls aus, der in Deutschland die Masken fallen ließ, und zwar anders, als es sich so mancher vorher ausgemalt hatte.

Mancher niederbayrische Landrat, dem Vernehmen nach Vertreter eines stockkonservativen Menschenschlags, räumte im Sommer 2015 ohne größeres Wehklagen Turnhallen als Notunterkünfte frei, während liberale und weltoffene Großstädter über die Frage räsonierten, wie sich denn die Flüchtlingsunterkunft in der Nachbarschaft auf den Wert der eigenen Immobilie auswirken würde. Andere stellten auf Bürgerversammlungen die Frage in den Raum, was denn angesichts der Neuankömmlinge „mit den Kindern“ sei, sagten aber nicht, was sie damit meinten. Und bei vielen fiel die Maske so schnell und gründlich, dass die rassistische Fratze darunter in aller Deutlichkeit sichtbar wurde. Gebäude, die als Unterkünfte vorgesehen waren, brannten ab. Busse mit geflüchteten Menschen wurden attackiert. Andernorts gab es Hetzjagden. Und es zeigte sich, dass man mit Hetze, Rassismus, völkischen Parolen und Nationalismus, über Social Media ausgekübelt und verbreitet, trefflich Politik machen und es damit bis in den deutschen Bundestag schaffen konnte.

Man könnte an dieser Stelle viele Auswüchse dieser Entwicklungen analysieren. Ein pervertiertes Verständnis von Meinungsfreiheit etwa, das im Endeffekt zum Ziel hat, Rassismus vor Widerspruch zu schützen und dem Sprecher gar eine Opferrolle zuzuweisen. Die Gleichsetzung von Meinungen und Gefühlen mit Fakten. Die Bandbreite stereotyper Zuschreibungen gegenüber nichtweißen Menschen. Die Gleichsetzung von Islam und Islamismus. Medien, die Rassisten wiederholt ein Forum in Talkshows boten. Die Verrohung einer Sprache, die plötzlich mit Vokabeln wie „Asyltourismus“ und „Messer-Migranten“ operierte und damit ganze Welt- und Menschenbilder offenbarte.

Es soll hier um etwas anderes gehen. Was sich anhand des Umgangs mit der Thematik „Flucht“ zeigt, quer durch alle politischen und weltanschaulichen Lager und von der lokalen bis zur globalen Ebene, ist eine Verweigerung. Ein Nichtanerkennenwollen von Komplexität, das eine traurige Wahrheit verschleiert: Wir wollen uns mit Flucht nicht auseinandersetzen. Wir wollen nicht verstehen, warum Menschen flüchten, welche Gefahren und Risiken sie auf sich nehmen, wie viele von ihnen den Weg nicht überleben. Wir wollen ihre Geschichten nicht hören, ihre kulturellen Normen und Traditionen nicht verstehen. Oftmals wollen wir sie nicht einmal sehen.

Vom Sehen und Verstehen

In seinem Buch „Flucht. Eine Menschheitsgeschichte.“ schreibt der Historiker Andreas Kossert:
„Wenn Flüchtlinge überhaupt ins Land kommen, werden sie nach Möglichkeit weit draußen, fernab der Sichtachsen bürgerlicher Wohnquartiere, in Behelfsunterkünften, Lagern oder ähnlich notdürftigen Behausungen untergebracht. Keiner will die ungebetenen Gäste in der eigenen Nachbarschaft haben. Das ist 2015 in der Bundesrepublik nicht anders als nach dem Zweiten Weltkrieg in den vier Besatzungszonen. Flüchtlingslager und die schmucklosen Flüchtlingssiedlungen der 1950er Jahre entstehen an der Peripherie, auf Brachland und in jedem Fall weitab der Villenviertel und historischen Ortskerne.“

Es passt in dieses Bild, dass die Frage nach einer Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Baden-Württemberg in Heidelberg mit einem Gelände am Stadtrand zwischen Autobahn und Bahngleisen beantwortet werden sollte. Allein dieser Entscheidungsprozess zeigt deutlich, dass auch Protagonisten einer Stadtgesellschaft, die sich als „weltoffen“ betrachtet, nicht davor gefeit sind, geflüchteten Menschen einen Platz an der Peripherie, am Rand, zuweisen zu wollen. Es brauchte eine Bürgerinitiative und einen Bürgerentscheid, um diese zunächst als alternativlos gelabelte Planung in eine andere Richtung zu lenken. In gewisser Hinsicht passte sich die Stadtverwaltung mit der Ursprungsplanung jedoch in ein größeres Phänomen ein: nämlich den schwierigen Weg nicht gehen zu wollen, der bedeutet hätte, eine völlig neue Perspektive zu entwickeln, mit einer Unterbringung, die Integration von Beginn an mitdenkt.

Doch halt: Integration? Auch hier findet sich wieder ein Thema, das in seiner Komplexität nicht erfasst wird. Während hier von „Integration“ gesprochen, aber „Assimilation“ gemeint wird, jongliert man dort mit Begrifflichkeiten wie „Leitkultur“ und „europäischen Werten“, während gleichzeitig im Bereich einer gemeinsamen integrativen „deutschen Identität“ eine Leerstelle bleibt. Andernorts wurde unterdessen der deutschvölkische Nationalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wieder aufgewärmt. Etwas blieb jedoch auch hier ungesagt: Integration von Geflüchteten ist ein Prozess, der kein definiertes Ende hat, der vielen vielleicht auch niemals gelingen wird, einfach weil sie ihre Flucht für immer mit sich tragen. Ein Prozess, der mit Sprache, Kultur, Identität, Geschlecht, Psyche, Körper und Geist zu tun hat, der in höchstem Maße individuell ist, ist fast unmöglich mit einem Schlagwort, einem begrifflichen Rahmen zu greifen.

Aber auch das ist uns zu kompliziert, zu komplex. Auf der einen Seite wollen wir einfach glauben, dass man Sprachkurse und Wohnungen anbietet, die Kinder in die Schule und in den Sportverein und die Erwachsenen irgendwann in Ausbildung oder Arbeit gehen, im Alltag alles ohne Reibungsverluste ineinandergreift und sich Herkunft und Kultur gewissermaßen entnationalisieren und ihre Komplexität einbüßen. Vor allem gilt das dann, wenn wir selbst mit dem Konzept „Deutschland“ und „Deutsch sein“ zu kämpfen haben.

Auf der anderen Seite wird mit einem erstaunlichen Maß an Realitätsverweigerung die empirische Tatsache einer bereits seit Jahrzehnten in diesem Land bestehenden multikulturellen Gesellschaft geleugnet, gesellschaftlicher Rassismus (gerade der eigene!) relativiert und ein Bild von früher heraufbeschworen, das mit dem echten „Früher“ nichts zu tun hat, vor allem weil es nur eine Projektion der allzu komplizierten Gegenwart ist.

Das Umgehen von/mit Wirklichkeit

Auf allen Ebenen der Vertikale, von transnationalen Strukturen wie der Europäischen Union bis hin zum Individuum und quer durch die politischen Lager findet sich Verweigerungshaltung und das Ausblenden der komplexen Realität. Der Grünenpolitiker Erik Marquardt bringt dies auf den Punkt. In einem Interview mit dem Portal „Krautreporter“ sagte er im Februar 2021:

„Das ganze Thema wird oft so dargestellt, als gäbe es nur die Wahl zwischen einer völligen Abschottung oder offenen Grenzen. Doch in der politischen Realität entscheidet man sich nicht für eins dieser Teams. Es gibt umfangreiche Gesetze, die den Umgang mit Menschen an den Grenzen regeln. Unser größtes Problem ist, dass europäische Regierungen ohne Konsequenzen gegen diese Gesetze und Menschenrechte an den Grenzen verstoßen können. Ohne Rechtsdurchsetzung werden sich die Gegner von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen. Wenn dazu auch noch demokratische Parteien rechtspopulistische Argumentationen übernehmen und behaupten, dass Grenzschutz vor allem die Abwehr von Geflüchteten bedeuten würde und Vorurteile befeuern, wird es immer schwieriger, eine pragmatische und lösungsorientierte Debatte zu führen.“

Und weiter:

„Die Lösung muss deswegen auf der realistischen Annahme beruhen, dass man einen Konsens mit allen EU-Staaten nicht hinbekommen wird. Wer heute noch behauptet, es müsse eine gesamteuropäische Lösung mit allen 27 Mitgliedstaaten geben, der will in Wirklichkeit überhaupt keine Lösung.“

Es ist gerade beim Blick auf die Fluchtrouten über das Mittelmeer klar, dass die EU seit Jahren daran scheitert, ein Konzept für die vielbeschworene „Bekämpfung von Fluchtursachen“ und auch für die Aufnahme von Flüchtlingen zu findet. Sie scheitert an ihren eigenen Strukturen, schiebt ein Grenzen überschreitendes Problem auf die Ebene der per definitionem in Grenzen agierenden Nationalstaaten ab, setzt ihre eigenen Regeln nicht durch und, mehr noch, toleriert einen fortgesetzten Rechtsbruch. Die eigenen Werte, wenn man sie denn jemals leben wollte, werden dadurch ausgehöhlt. Die Staaten an den Außengrenzen wiederum tolerieren kein Heraushalten der Staaten im Zentrum der EU, wodurch die Entwicklung des Sommers 2015 zustande kam. Der Zustand der Rechtlosigkeit manifestiert sich bis heute in den Lagern auf Ägäis-Inseln, in dem Zurücktreiben von Flüchtlingen in Richtung Türkei und in der Einstellung von Rettungsmissionen durch staatliche Institutionen im Mittelmeer. Seerecht und EU-Recht werden gebrochen. Das Eingreifen zivilgesellschaftlicher Initiativen in Form von Rettungsmissionen wiederum gipfelt teilweise in Strafprozessen, beklatscht von Nationalisten, Populisten und Flüchtlingsfeinden überall auf dem Kontinent. Recht wird plötzlich wieder zur Anwendung gebracht, während es vorher noch ein Hindernis war.

Parallel ermöglichen es uns die sozialen Medien, sehr schnell und auch durchaus pointiert, eine Position zu beziehen. Die Bilder von der Leiche des kleinen Alan Kurdi an einem Strand an der türkischen Küste wurden mit Herzen und tränenüberströmten Emoticons bedacht. Petitionen zur Aufnahme von Flüchtlingen wurden hunderttausendfach geklickt. Die Zustände im Lager Moria wurden mit aktivistischen Hashtags begleitet. Aber auch hier wird auf dem Rücken der Flüchtlinge eine unterkomplexe, in Teilen primitive Debatte geführt. Das Verbreiten von Hashtags führt nicht zu politischen Entscheidungen, Forderungen nach Evakuierung lassen sich leicht stellen, wenn man sie selbst nicht umzusetzen hat. Allzu einfach werden auch hier individuelle Schicksale instrumentalisiert, werden die Flüchtenden zur Projektionsfläche für eigene Wünsche, Träume oder auch Komplexe. Die Realität dieser Projektionen zeigt sich in den Konsequenzen oder vielmehr in ihrem Ausbleiben.

Im Blick auf Deutschland zeigt sich: ja, es gibt Angebote von Kommunen und Bundesländern Flüchtlinge aufzunehmen, der politische Druck auf die Bundesebene, dies zu gestatten, wurde und wird jedoch nicht entwickelt. Ja, es gibt rege Onlineaktivität rund um das Thema Flucht. Viele Hashtags und Onlinepetitionen verlassen jedoch die jeweilige politische und soziale Blase nicht, auch deshalb, weil viele der Unterstützer*innen ihre Unterstützung auf ihren Klick beschränken. Ja, es gibt auch den Schritt in den öffentlichen Raum. Demonstrationen vor Rathäusern verfehlen ihre Wirkung aber oft allein schon deshalb, weil die Adressaten der dort erhobenen Forderungen nicht in diesen zu finden sind.

Man könnte sogar noch weiter gehen. Egal für welchen Bereich gilt: Wer verlangt, die „Politik“ möge doch handeln, ruft in einen luftleeren Raum, denn er hat sich die Frage „wer“ oder „was“ diese Politik ist und was sie im bestehenden Rechtsrahmen und in der Abwägung einer Vielzahl von Interessen überhaupt tun kann, nicht gestellt. Wer sagt, ein Problem müsse von „der Gesellschaft“ gelöst werden, dem ist schon das Problem gleichgültig, geschweige denn die Lösung. Das Inszenieren von Handeln ist nicht mit dem Handeln gleichzusetzen.

Wenn wir über Flucht sprechen oder in diesem Bereich aktiv sind, fallen bei uns allen die Masken. Die Masken der Engagierten, die am Termin der Demo leider gerade im Urlaub sind. Die Maske der Aktivist*innen, die sich nach der Nacht im Aktionszeltlager wieder dankbar ins eigene Bett fallen lassen. Die Maske der Sprecher*innen für die Belange von Geflüchteten, die diese jedoch selbst nicht zu Wort kommen lassen. Die Maske der Unterstützer*innen, die nicht gefragt haben, welche Art von Unterstützung von den Betroffenen überhaupt gebraucht wird. Die Maske der Privilegierten, die die Freiheit haben, sich ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, zurückziehen und anderen Themen widmen zu können. Für den flüchtenden Menschen ist die Priorität seine Flucht und sein Überleben. Für uns ist sie ein Betätigungsfeld unter vielen.

Hier geht es zu Teil 2: Hier klicken

Zurück